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Vortrag Ann 2002

 

Non scholae sed vitae discimus

Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir

Festvortrag von Prof. Dr.-Ing. Dr. sc. h.c. Holger Ann zum 75-jährigen Bestehen der Stormarnschule in Ahrensburg am 15. Februar 2002

 

Sehr geehrter Herr Direktor Frahm, sehr verehrte Festversammlung!

Es ist mir eine große Freude, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen. Die Stormarnschule wird 75 Jahre alt. Ich bin vor 60 Jahren auf diese Schule gekommen, und im letzten Jahr hat unsere Klasse ihr 50-jähriges Abitur gefeiert. Sie sehen daran, wie unser Klassenverband heute noch zusammenhängt.

 

Non scholae sed vitae discimus

Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir

Als unsere Klasse vor 50 Jahren die Schule verließ, wurde uns das Zeugnis der Reife ausgehändigt. Es ist schwer, nachträglich unseren damaligen geistigen Reifezustand festzustellen, Aber immerhin, Bildung und Wissen, die wir auf der Stormarnschule erworben hatten, haben uns offenbar befähigt, unser Leben zu meistern. Wir hatten eine Schulzeit hinter uns, die sich heutige Schüler nicht vorstellen können - Hunger, Kälte, keine warme Kleidung und permanente Bedrohung durch Fliegerangriffe waren an der Tagesordnung. Viel später erst haben wir erkannt, welche Leistung die Lehrkräfte erbracht haben, die unter diesen Bedingungen den Unterricht vorbereiten und halten mußten. Dazu kam im Kriege die Integration der Ausgebombten, nach Kriegsende die der Schüler und Schülerinnen aus den Ostgebieten, die teilweise Erlebnisse hinter sich hatten, bei denen man heute eine psychologischer Betreuung für dringend erforderlich halten würde. Trotz allem haben die meisten Ehemaligen meiner Klasse die Schulzeit in sehr guter Erinnerung, wie die regelmäßigen Klassentreffen zeigen.

Ich kann nicht die Namen aller unserer Lehrkräfte aufführen, die diese Zeit gemeistert haben, aber einen möchte ich doch stellvertretend nennen, unseren Klassenlehrer Erwin Feldt. Er kam nach dem Kriege zu uns. Er war ein ausgezeichneter Pädagoge, ein hervorragender Mathematik- und Physiklehrer, der sich weit über das geforderte Maß für uns einsetzte. Er leitete auch die mathematischen und physikalischen Arbeitsgemeinschaften. Wir rechneten dort mit Determinanten und binären Zahlen, sprachen über das Plancksche Wirkungsquantum, die Einsteinsche Relativitätstheorie, die ja wenige Jahre vorher noch als jüdische Physik verboten war, und von der Heisenbergschen Unschärferelation. Alles dies war neu und gehörte zu einem Umsturz im Weltbild der Physik, der uns faszinierte. Heute gehört dies vermutlich zum normalen Oberstufenpensum. Wir bauten sogar mit primitivsten Mitteln eine Wilsonsche Nebelkammer, in der wir die Bahnen von Alpha- und Betateilchen fotografierten.

Unser Vertrauensverhältnis war so gut, daß Erwin Feldt uns gelegentlich Mathematikarbeiten ohne Aufsicht schreiben ließ. Keiner hat das ausgenutzt. Nur einmal hatten wir ein Bildungsproblem. Unsere Oberprima war die erste Klasse der Stormarnschule, die ins bayrische Ausland reisen durfte. In München besuchten wir den Löwenbräukeller mit seinem Starkbier. Nach einigen Maß kamen wir auf die Idee, unserem Direktor eine Postkarte zu schreiben, die auch Erwin Feldt unterschrieb. Das hätten wir besser nicht tun sollen. Es gehört sich nicht, seinen Direktor zu duzen und als "Lieber Volkstanzbruder" anzusprechen und das auf einer offenen Postkarte. Non scholae sed vitae discimus! Wir haben fürs Leben gelernt.

Wie waren wir vor 50 Jahren auf unseren Berufsweg durch die Schule vorbereitet? Ich habe schon gesagt, daß wir allesamt gut durch das Leben gekommen sind. Bildung und Wissen, die uns vermittelt wurden, reichten offenbar aus. Ich habe praktisch mein ganzes Berufsleben in einem großen Unternehmen der Elektroindustrie verbracht. Ich hatte nebenbei auch mit Ausbildungsfragen zu tun, da ich der unternehmenseigenen Hochschulkommission angehörte und einer der deutschen Vertreter im europäischen und im Weltingenieursverband war. Dazu kam später meine Tätigkeit als Hochschullehrer.

Meine Erfahrungen beziehen sich weitgehend auf Studium und Absolventen von Natur- und Ingenieurwissenschaften und die Anforderungen, die daran aus Industrie- und Hochschulsicht gestellt werden. Modern gesagt spreche ich also heute quasi als Vertreter der Abnehmerseite. Deren Meinung fließt in meinen Vortrag natürlich ein.

Weltweit veränderte wirtschaftliche Verhältnisse verlangen angepaßte Bildungsinhalte und eine den modernen Zeiten entsprechende Ausbildung. Daher möchte ich zunächst auf den Bildungsbegriff eingehen. Das muß zwangsläufig holzschnittartig sein und außerdem noch aus der subjektiven Sicht eines Ingenieurs.

 

Bildungsbegriff im Wandel

Jahrhundertelang war der traditionelle Bildungsbegriff geprägt durch christlich-humanistische Inhalte. Man spricht oft vom Humboldtschen Bildungsideal. Dies gilt vor allem für die Universitäten des 19. Jahrhunderts und betraf die Einheit von Forschung und Lehre. Es war eine Reaktion auf den aufkommenden ökonomischen Utilitarismus durch die beginnende Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts. Die traditionelle Bildung wurde ein Markenzeichen des Bildungsbürgertums mit geisteswissenschaftlicher Ausrichtung. Als gebildet galt früher, wer Latein konnte, später wer Französisch konnte. Englisch war nur die Sprache der Kaufleute. Die Gleichwertigkeit der Naturwissenschaften auf den neugeschaffenen Oberrealschulen Anfang des 20. Jahrhunderts wurde herablassend kommentiert. Dies führte zu skurrilen Verhaltensweisen. Von einer Tante weiß ich, daß Lyzeumsschülerinnen auf der Blankeneser Promenade nur mit Jünglingen altsprachlicher Gymnasien sprechen durften, nicht aber mit Oberrealschülern. Im universitären Bereich hat sich diese Vorstellung noch lange erhalten. Der berühmte Romanist Ernst Robert Curtius lehnte einen Ruf als ordentlicher Professor auf einen Lehrstuhl an einer Technischen Hochschule ab, weil er fürchtete, von einem Professor der technischen Fakultät mit "Herr Kollege" angesprochen zu werden. Heute leisten sich Technische Universitäten auch eine geisteswissenschaftliche Fakultät. So ändern sich die Zeiten!

Nach dem letzten Kriege suchte man eine Symbiose des traditionellen Bildungsbegriffs mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften, aber dann kam die 68er-Bewegung, die ihn völlig demontierte. Die Vorwürfe waren:

1. Bildung sei einer der unklarsten Begriffe im pädagogischen Sprachgebrauch, stattdessen solle nun der Begriff "Lernen" der Oberbegriff aller pädagogischen Bemühungen sein.

2. Der traditionelle Bildungsbegriff sei idealistisch oder sogar ideologisch verformt.

3. Traditionelle Bildung sei rückwärtsgewandt. Ein Kanon von Bildungsgütern aus der Kultur unserer abendländischen Geschichte sei nicht geeignet, sich den Herausforderungen der Zukunft zu stellen.

4. Bildung sei zum Elitekriterium einer hervorgehobenen Schicht geworden und vertiefe die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten.

Die Auswirkungen der 68er - Turbulenzen hat die Stormarnschule leidvoll erfahren müssen.

Ein Teil dieser Vorwürfe war durchaus gerechtfertigt und hat zu Änderungen in unserem Bildungssystem geführt. Nach der Normalisierung unseres politischen und geistigen Lebens hatte sich aber der Bildungsbegriff in eine andere Dimension verschoben. Man verwechselte Bildung zunehmend mit Ausbildung. Die Begriffe Bildungsnotstand und Bildungsreform meinten in erster Linie eine Änderung unseres Ausbildungssystems in Richtung Förderung der Begabtenreserve und Chancengleichheit. Man gründete neue Schulen, Universitäten und Fachhochschulen, erleichterte die Abschlüsse durch geänderte Prüfungsordnungen und entzerrte Prüfungstermine, schaffte eine Oberstufenreform mit Kurscharakter statt Klassenverband, übrigens im Einklang mit anglo-amerikanischen Vorbildern. Nachdem sich der Pulverdampf verzogen hat, stellt man heute fest, daß der Bildungsbegriff im pädagogischen Denken offenbar unverzichtbar ist. So gibt es jetzt im universitären Bereich von Geistes-, Natur- und Ingenieurwissenschaftlern das Bestreben, ihn neu zu definieren. Bei einer Umfrage unter 20 hochkarätigen Wissenschaftlern gab es 20 Definitionen, die kaum deckungsgleich waren. Ich habe zwei davon ausgewählt. Die erste vom Generalsekretär des Stifterverbandes für die deutsche Wirtschaft lautet: "Bildung ist Arbeit und Wissen, Können und Verantwortung."

Als erster Begriff wird Arbeit genannt. Bildung durch Arbeit ist aktives Lernen, zur Arbeit gehören Disziplin und Ausdauer. Arbeit ist schöpferisch. Arbeit darf auch körperlich sein. In der Antike sah man das anders. Die Gebildeten, also die Philosophen, arbeiteten gerade nicht. Auch bei uns galt diese Hybris lange Zeit. Ich muß gestehen, ich habe bei diesem Thema eine Resonanzstelle, denn ich mußte wie mehrere meiner Klassenkameraden nach dem Abitur aus finanziellen Gründen zunächst eine 3-jährige handwerkliche Lehre machen, die ich durchaus als Teil meiner Bildung ansehe.

Der zweite Begriff: Zur Bildung gehört "Wissen" bleibt wohl unwidersprochen.

Der dritte Begriff ist das "Können". Es leuchtet unmittelbar ein, daß es Bildung ohne Können nicht geben kann. Es setzt verarbeitetes Wissen voraus.

Der vierte Begriff "Verantwortung" meint ethisches Handeln. Schon Kant spricht von der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen.

Die zweite Definition vom Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft

"Bildung ist das Streben danach"

zeigt die Bescheidenheit des Gebildeten, der sich seiner Grenzen bewußt ist. Es erinnert an Sokrates mit seinem Ausspruch "Ich weiß, daß ich nichts weiß".

Im Bereich der Literatur gibt es ebenfalls Überlegungen dazu. Kürzlich hat der Hamburger Anglistikprofessor Schwanitz ein Buch mit dem Titel "Bildung" herausgebracht. Es ist stilistisch geschickt geschrieben und amüsant zu lesen. Bildung ist das, was innerhalb des Horizonts des Autors liegt. Seine Schulzeit hat er offenbar mit geringen naturwissenschaftlichen Kenntnissen bewältigt, anders sind die beiden folgenden Zitate nicht zu verstehen:

"Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse werden zwar in der Schule gelehrt; sie tragen auch einiges zum Verständnis der Natur bei .... (Doch) so bedauerlich es manchem erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht."

und

"Alles ist irgendwie relativ" - als entscheidende Pointe der Relativitätstheorie Einsteins.

Eine derartige Unkenntnis der Grundlagen der Naturwissenschaften oder die Verkennung ihrer Bedeutung sind höchst gefährlich. Amerikanische Philosophen sind sich darüber einig. Nach ihrer Ansicht gehört es zur selbstverständlichen Aufgabe eines gebildeten Menschen, mit der physikalischen Theorie der Atome wie mit dem Konzept der biologischen Evolution vertraut zu sein.

Gerade die Natur- und Ingenieurwissenschaften sind ein hervorragendes Gebiet für eine schöpferische Tätigkeit, die eines der wichtigsten Merkmale der Bildung darstellt. Natur- und Ingenieurwissenschaften haben aber auch eine erhöhte Verantwortung für die Folgen, die ihre Erkenntnisse nach sich ziehen können. Sie sollten ihre Verantwortung dadurch wahrnehmen, daß sie ihre Wissenschaft und ihre Forschungsergebnisse verständlich und populär dem breiten Publikum zugänglich machen.

Der neueste Kleine Brockhaus reduziert Bildung auf die drei Begriffe "Gutes Benehmen, Anstand und Takt". Es wäre sehr zu begrüßen, wenn diese Verhaltensweisen Allgemeingut wären. Aber es gehört noch mehr dazu: Bildung muß dazu befähigen, die schöpferischen Leistungen des eigenen Kulturkreises und seine großen geistigen Entwicklungen zu verstehen. Um z.B. in einer Kirche zu erkennen, was auf Bildern oder in Skulpturen dargestellt ist, braucht man Kenntnisse der Bibel und der christlich-abendländischen Tradition. Um ein Theaterstück unserer Klassiker oder Shakespeares zu verstehen, muß man etwas von griechischer Mythologie gehört haben.

Die Beherrschung der eigenen Sprache sollte Voraussetzung für eine Allgemeinbildung sein. Man kann da absonderliche Dinge erleben. Ich habe einmal bei der Korrektur einer Examensklausur im Hochschulsekretariat nachgefragt, ob der Verfasser Ausländer sei - war er aber nicht. Vielleicht war es ja nur die neue Rechtschreibung, die ich noch nicht beherrsche.

Wissen scheint leichter erlernbar als Bildung. Dafür gab es früher Lexika, heute PC-Programme. So kann in Briefen heute durch entsprechende Programme eine einwandfreie Rechtschreibung erzielt werden. Auch andere Wissenslücken lassen sich überbrücken. Die monetären Anreize in Fernsehshows tun ihr Übriges, allerdings recht selektiv. So kann man 250 Euro gewinnen, wenn man errät, ob Paris, Madrid oder Lissabon die Hauptstadt von Portugal ist. Mancher Teilnehmer und mancher Fernsehzuschauer bekommt so einen Crashkurs in vermeintlicher Bildung.

Nach diesen Überlegungen zum Wandel des Bildungsbegriffs nun einige triviale Fakten über die Grundlagen unseres Wohlstandes und damit auch unseres Bildungssystems. Jeden Tag können wir in der Zeitung über unser Nettoinlandsprodukt lesen. Das ist der Wert der im Inland erzeugten Güter und Dienste: Viele Mitbürger aber wissen nicht, wie sich das Nettoinlandsprodukt zusammensetzt. Die Beiträge von Dienstleistungen einschließlich Staat liegen bei gut 50 %. Von Dienstleistungen allein aber kann keine Volkswirtschaft leben. Als ich einmal einer geisteswissenschaftlichen Professorengattin klarzumachen versuchte, auch für das Gehalt ihres Gatten und für die ganze Universität sei eine florierende Industrie erforderlich, meinte sie nur: "Wieso, wir zahlen doch Steuern", so als wenn 100 % Gehalt aus 30 % Steuern erwirtschaftet werden könnten.

Tatsache ist: Wir leben überwiegend von der Industrie. Sie steuert mit den kleineren Beiträgen von Bauwirtschaft und Bergbau die entscheidenden 30 % zum Nettoinlandsprodukt bei. Dazu kommt die Landwirtschaft mit gerade mal 1,7 %. Daher ist die Notwendigkeit der Förderung von Natur- und Ingenieurwissenschaften evident, denn wir haben nur unsere Menschen als Ressource. Wir brauchen Ingenieure. 1996 gab es 50.000 Ingenieurabsolventen, im Jahre 2000 nur noch 40.000. Die Greencard ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine Anmerkung am Rande: Ich erwähnte schon meine Tätigkeit im Weitingenieursverband. Den mitgliederstärksten Verband in Entwicklungsländern im Mittelmeerbereich hatten die Palästinenser. Sie sehen, welche Probleme sich mit der Greencard ergeben könnten.

Die Pisa-Studie zeigt unter anderen Defiziten, daß die deutschen Schüler eine zu geringe Kompetenz im Lesen, in Mathematik und in den Naturwissenschaften haben. Für die Gymnasien ist dies wegen der Vermischung mit anderen Schultypen nicht sehr aussagekräftig, aber es werden ja nicht nur Ingenieure benötigt, sondern auch Facharbeiter. Nach einem Gutachten für die Zuwanderungskommission der Bundesregierung fehlen in der deutschen Wirtschaft in den nächsten 20 Jahren 1,2 Mio. einheimische Hochschulabsolventen und außerdem 4,2 Mio. Facharbeiter. Woher nehmen?

Ein Problem ist auch die nachlassende Studierwilligkeit der Schulabgänger. 1990 begannen 82 % der Abiturienten eine Studium, 1999 nur noch 68 %.

 

Flucht aus den harten Fächern

In unserem modernen Schulsystem leisten wir uns den Luxus, daß die Schüler bestimmte naturwissenschaftliche Fächer frühzeitig abwählen können, und die nehmen das in großem Maße wahr, was man ihnen nicht übelnehmen kann. Ich halte dies nicht für optimal. An den Universitäten wird die Oberstufenreform gern dafür verantwortlich gemacht, daß die Studierfähigkeit der studentischen Jugend abnimmt und zwar hauptsächlich bei den kognitiven Fähigkeiten, d.h. analytischer Kompetenz und Abstraktionsvermögen. Bei einer Befragung von etwa 1500 Professoren wurde ein Drittel der Studienanfänger als nicht studierfähig eingestuft. 3/4 der Professoren hatten bei ihren Studenten keine klaren Studienziele feststellen können.

Ich habe in den 80-er Jahren viele Gespräche mit Studenten geführt. Typisch war ein 28-jähriger Ingenieurstudent, der nach 14 Semestern noch ein Volkswirtschaftsstudium dranhängen wollte, um ja nicht ins feindliche Leben hinauszumüssen. In unserer Wohlstandsgesellschaft fehlt eben der Druck, möglichst bald Geld verdienen zu müssen. Viele wollen nicht erwachsen werden. Darum ist es so wichtig, daß frühzeitig Anforderungen gestellt werden, die bewältigt werden müssen. Dann werden sie auch bewältigt und dies vermittelt motivierende Erfolgserlebnisse.

Eine deutsche Spezialität ist die Technikfeindlichkeit. Viele ihrer Verfechter stammen aus Haushalten mit einem überdurchschnittlichen Familieneinkommen. Sie meinen, auf weitere technische Errungenschaften verzichten zu können ohne Rücksicht auf Mitmenschen, denen es noch nicht so komfortabel geht. Andererseits haben sie ein Urvertrauen in die Fähigkeit der Ingenieure, Naturgesetze außer Kraft setzen und wirtschaftliche Gegebenheiten ignorieren zu können. In Deutschland sind nur 30 % der Bevölkerung an Technik interessiert, in Frankreich und England etwa 50 %, in Schweden 60 %. 25 % der Deutschen glauben, daß sich die Sonne um die Erde dreht. Eine etwas modernere Allgemeinbildung wäre hier nicht von Schaden.

Dasselbe gilt für eine andere spezifische Eigenheit der Deutschen - die German Angst. Ich erinnere mich an einen höchst süffisanten Aufsatz im Journal der OPEC. Mit ängstlichen Partnern macht man bessere Geschäfte.

Das Maß an Irrationalität ist außerordentlich hoch. Ich hatte einmal eine Tischdame, eine sehr gebildete Juristin, die ihren Stuhl ein Stück wegrückte, als sie hörte, daß ich den weltweiten Bedarf an Kraftwerken ermittelte. Sie befürchtete, ich sei verstrahlt. Im übrigen schweißte sie die Oberhemden ihres Mannes in Folie ein, damit sie nicht mit der kontaminierten Luft in Berührung kamen. Ihr Mann war leitender Angestellter in einer Munitionsfabrik.

Einmal mußte ich einen Vortrag in Bonn vor einem parlamentarischen Beratergremium für Umweltfragen halten und wies darauf hin, daß der C02-Gehalt unserer Atmosphäre weiter ansteigen würde. Allein die Motorisierung Chinas mit Mofas, nicht etwa mit Autos, würde einen erheblichen Zuwachs bedeuten. Daraufhin brach die Vertreterin des Hausfrauenverbandes Lüchow-Danneberg in Tränen aus, weil sie fürchtete, demnächst ersticken zu müssen. Die Frau tat mir Leid, denn sie war Opfer von Angstparolen auf Stammtischniveau.

 

Bildung und Ausbildung in anderen Ländern

Die Pisa-Studie hat die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit auch auf ausländische Ausbildungsverhältnisse gelenkt. Die Grundbildung in Mathematik und Naturwissenschaften ist in vielen anderen OECD-Ländern offenbar besser. Trotzdem ist die deutsche Ingenieurausbildung immer noch weltweit respektiert und anerkannt.

Die Ausbildung in den USA läuft anders. Das sogenannte Studium auf Colleges entspricht weitgehend unserem Oberstufenniveau. Bei Vergleichen mit Studentenzahlen muß man beachten, daß 36 % der Studenten an den Community Colleges studieren. In allen Ausbildungsgängen gibt es rankings, d.h. es findet ein Wettbewerb unter den Hochschulen statt, der sich stark am beruflichen Erfolg der Absolventen orientiert. Auf uns wirkt das Studium stark verschult, wird aber sehr effektiv durchgezogen und ist wesentlich kürzer als bei uns. Außerdem verläßt der überwiegende Teil der Studenten die Universität mit dem BachelorExamen nach 3 Jahren. Die weiterführende 2-jährige Masterausbildung wird in der Industrie meist nicht honoriert. Eine Promotion streben nur diejenigen an, die in der Forschung oder wissenschaftlich tätig sein wollen

Interessant ist die Verteilung auf In- und Ausländer. Beim Bachelordegree sind in den USA 25 % Ausländer, beim Master 50 % und beim Doktorgrad, dem PhD, 75 %. Auch in den USA gingen wie in allen westlichen Industrieländern die Zahlen für die Ingenieurstudenten zurück.

In den Entwicklungsländern ist das anders. Dort nimmt der Drang zu den Ingenieursfächern noch zu.

Indien hat das größte Reservoir an Naturwissenschaftlern und Ingenieuren in der Welt. Dort studierten 1997/98 1,8 Mio. Naturwissenschaftler und Ingenieure (in Dt. 570.000) mit stark steigender Tendenz.

In China beträgt die Zahl der Erstsemester 2 Mio. mit ebenfalls stark steigender Tendenz, obwohl erhebliche Studiengebühren verlangt werden. Die Anzahl der Ingenieurstudenten ist nicht bekannt, aber sie dürfte weit höher als in Deutschland liegen.

Die Professoren der Technischen Hochschule in Bandung/Indonesien haben alle in Europa und in den USA studiert und promoviert. Ich habe selbst noch Kontakte mit Indonesiern, deren Studienarbeiten ich als Hochschulassistent vor 40 Jahren betreut habe. Die technischen Einrichtungen der Hochschule sind mit unseren vergleichbar. Die Aufnahmeprüfungen für die Universitäten wurden dort wegen der großen Bewerberzahl in Fußballstadien durchgeführt

Eine ganz entscheidende Frage ist die Dauer des Studiums. Ingenieure in Deutschland werden viel später fertig als im Ausland. Dies ist ein erheblicher Nachteil im internationalen Wettbewerb.

Das sind nur einige Schlaglichter, was für Konkurrenz uns morgen erwartet.

 

Schülerinnen und Naturwissenschaften

In unserer modernen Gesellschaft spielt die Gleichberechtigung der Geschlechter eine wichtige Rolle. Immerhin ist die Stormarnschule aus einer privaten Höheren Töchterschule hervorgegangen. Meine Mutter ist hier schon 1910/16 zur Schule gegangen. Weil Ende der 20-er Jahre kurzzeitig mehr Jungen als Mädchen in die Sexta eintraten, wurde daraus nach der Übernahme durch die Gemeinde Ahrensburg eine "Oberschule für Jungen". Als ich 1941 in die Stormarnschule kam, waren wir 1/3 Jungen und 2/3 Mädchen. Ich wehre mich vehement dagegen, daß sich hier eine Intelligenzverteilung widerspiegelt. Im übrigen hat eine Klassenkameradin in der Obersekunda in einem Aufsatz geschrieben: "Die Stormarnschule ist eine Oberschule für Jungen, welche die Mädchen besuchen dürfen." Ich möchte weniger auf die Doppeldeutigkeit des Wortes "welche" hinweisen als auf das Wort "dürfen". Heute hat sich das normalisiert.

Wie steht es nun mit der Bildung und Ausbildung der Mädchen in den naturwissenschaftlichen und gegebenenfalls technischen Fächern? Das Rollenklischee vergangener Zeiten besagte, daß Mädchen für diese Berufe nicht geeignet seien. Inzwischen gibt es eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, daß Mädchen bei richtiger Anleitung keineswegs den Jungen in den Naturwissenschaften unterlegen sind. Im Gegenteil, sie arbeiten fleißiger und sorgfältiger. Im Schulunterricht fallen sie oft dadurch zurück, daß die Jungen sich aggressiver nach vorn drängen, sie sozusagen unterbuttern. In reinen Mädchenschulen sei das Interesse an diesen Fächern größer und die Ergebnisse besser.

Ich kann das aus meiner Erfahrung nur bestätigen. Im Wettbewerb "Jugend forscht" der in Süddeutschland eine große Rolle spielt und der auch von Firmen gesponsert wird, kamen aus reinen Mädchenschulen Spitzenergebnisse. In einigen Bundesländern wird erwogen, für Mädchen getrennten Unterricht in naturwissenschaftlichen Fächern einzuführen. Bei Mathematik gibt es offenbar keine Berührungsängste. An der Universität Erlangen war bei der mathematischen Diplomprüfung ein Viertel Studentinnen, beim ersten Staatsexamen, also für das Lehrfach, waren es sogar 2/3.

Andere Länder sind in dieser Beziehung schon weiter. Abgesehen von den früheren Ostblockstaaten habe ich ausgerechnet in den islamischen Ländern Türkei und Ägypten die meisten Ingenieurinnen angetroffen.

 

Leistungs- und Spaßgesellschaft

Wenn nach dem Charakter unserer Gesellschaft gefragt wird, fällt sehr schnell der Begriff Industriegesellschaft. Das ist sicher richtig, denn eine Agrargesellschaft sind wir nicht. Es wird aber auch der Begriff Leistungsgesellschaft benutzt und zwar mit unterschiedlicher Bedeutung. Er besagte zunächst, daß nach den beiden Weltkriegen eine Gesellschaft entstanden war, in der Herkunft und Vermögen keine Rolle mehr spielen sollten. Bis vor etwa 100 Jahren ging es in Deutschland vielen Menschen nur darum, sich mit ihrer Leistung das Nötigste zum Überleben zu erarbeiten. In vielen Entwicklungsländern ist das heute noch so.

Inzwischen hat sich die Bedeutung dieses Begriffs gewandelt. Einerseits versteht man unter Leistungsgesellschaft eine effektive Wirtschaftsgestaltung, andererseits eine gnadenlose Ausnutzung der Arbeitskraft im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Leistung wird vielfach diffamiert und als unmenschlich dargestellt. Es, wundert nicht, daß dies auch auf unser Bildungssystem übertragen wurde. Über die Folgen habe ich bereits gesprochen; mangelnde Studierfähigkeit und Abtauchen in die Verweigerungshaltung.

Es soll dabei nicht verschwiegen werden, daß die Furcht vor einem platten Materialismus nicht von der Hand zu weisen ist. Wenn shareholder-value zum ausschließlichen Maßstab unseres Handelns wird, ist es nicht weit zu cleverness oder Schlitzohrigkeit. Die Frage ist daher, wie Leistung definiert wird. Leistung ist immer mit Arbeit, Disziplin und einem erheblichen Maß an Einübung verbunden. Im Sprachunterricht müssen Vokabeln auswendig gelernt werden. Ein Musikinstrument zu spielen erfordert nun einmal regelmäßiges Üben über Jahre.

Wir stehen in einem weltweiten Wettbewerb. Damit stellt sich gar nicht die Frage, ob wir uns aus der Leistungsgesellschaft ausklinken können. Das mag für einzelne Menschen möglich sein, die entweder ihre Bedürfnisse zeitweilig herabschrauben oder von vornherein die Solidarität der Gesellschaft ausnutzen. In einem Seminar meiner energiewirtschaftlichen Vorlesung fragte ich nach den Voraussetzungen für den Bau einer großen Solaranlage in einem sonnenreichen Land. An Voraussetzungen wurden nicht etwa genannt - Sonnenscheindauer, Kostenrechnung oder Anzahl der potentiellen Abnehmer, sondern die Möglichkeit, Subventionen zu bekommen, also etwas ohne Leistung zu erhalten.

Ein Gegenbegriff zur Leistungsgesellschaft ist die sogenannte Spaßgesellschaft. Möglicherweise stammt dieser Ausdruck aus der Touristikbranche. Aber er wird von Teilen unserer Gesellschaft auf das Leben allgemein angewandt. Alles soll Spaß bringen, von harter Arbeit keine Spur. Man könnte sich darüber amüsieren, wenn die Idee nicht bereits in die Köpfe junger Menschen gedrungen wäre. Ein Personalberater hatte mehrfach junge Ingenieure vor sich, die von ihrer ersten Anstellung forderten, daß ihnen ihre künftige Arbeit vor allem Spaß bringen müsse. Der Kommentar des Beraters dazu war, daß die Neandertaler bei schlechtem Wetter wohl keinen rechten Spaß an der Mammutjagd gehabt hätten. Deshalb wären sie schließlich ausgestorben.

Es wäre schön, wenn man sich nur mit Dingen beschäftigen könnte, die Spaß machen. Besonders die Werbung trägt zu dieser Fiktion bei. Im Berufsleben ist leider sehr viel Frust eingebaut, mit dem man auch fertig werden muß. Es wäre zu wünschen, daß Lehrer dies schon ihren Schülern vermitteln könnten. Lernen bedeutet schließlich auch Arbeit. Es wäre nicht gut, wenn Lehrer nach und nach zu Animateuren werden müßten.

Die Veränderung der geistigen und wirtschaftlichen Grundlagen unserer Gesellschaft erfordert auch Änderungen im Erziehungssystem. Äußerungen von Politikern, die Lehrer und Professoren aus populistischen Gründen generell als faul bezeichnen, sind in höchstem Maße kontraproduktiv. Sie beschädigen Autorität und Ansehen der Lehrkräfte, die im Gegenteil erheblich gestärkt werden müssen, wie die Pisa-Studie ausweist. Früher hieß es: "War der Lehrer mit Dir zufrieden?" Heute heißt es: "Bist Du mit dem Lehrer zufrieden?" Auch die Eltern tragen hier eine Verantwortung.

Die Erschwernis für die Schule liegt darin, daß ihr der Hauptteil von Bildung und Ausbildung aufgebürdet wird, obwohl die in der Pisa-Studie erwähnten Defizite nur zu 30 % die Schule betreffen. Fehlerziehung durch Elternhaus und der Einfluß der Medien als heimliche Miterzieher können durch die Schule nicht kompensiert werden.

Der Bildungskanon für die Gymnasien wird immer umfangreicher. Es ist nicht meine Aufgabe, einen solchen zusammenzustellen. Der Deutsche Philologenverband, dem sich der Verein Deutscher Ingenieure voll anschließt, schlägt vor, daß ein Drittel der Unterrichtszeit in allen Schulformen und -stufen dem mathematisch- naturwissenschaftlich- technischen Aufgabenfeld zur Verfügung stehen soll. Zusätzlich würde ich gern einige Gebiete nennen, die mir aus meiner Lebenserfahrung unverzichtbar erscheinen. Dazu gehören neben einer soliden Allgemeinbildung in geisteswissenschaftlichen und musischen Fächern

# Erlernen von zwei lebenden Fremdsprachen

# Rhetorik und Präsentationstechnik

# Wirtschaftliche Grundkenntnisse

# Vorbereitung zum lebenslangen Lernen,

denn:

wer meint, etwas zu sein,

hat aufgehört, etwas zu werden.

 

Das klingt nach einem Ende, aber in einem Gedicht von Fritz Reuter heißt es:

Een jedes Ding dat hett een Enn

ne Woss hett sogar twee.

Nu kümmt dat annere Enn. Ick hew in dat Internet de Homepage vun de Stormarnschoal ankeken. Un dor hew ick funn', dat dat en Arbeitsgemeinschaft för Plattdüütsch gifft. Denn kann ick je ok'n beten Platt snacken. Ick hew mi bannich daröwer höcht, dat wi hier hüüt all tohoop kamen sünd, üm dat Jubiläum von unse Stormarnschoal tau fiern. Un ick kann den Herrn Direktor un all de Lehrerinnen und Lehrers bloot seggen: Dat kümmt nich dorop an, dat de Jungs und Deerns allns tau weten kriegen, wat dat gifft. Laat se arbeiten liern un en solide Allgemeinbildung kregen, denn sünd se in fiefuntwintig Johr bi dat Hunnertste von uns Schoal all wedder hier.

Velen Dank!

 

[Holger Ann machte im Jahr 1951 sein Abitur an der Stormarnschule.]